Vor dem Hintergrund des Rechtschreibstreits im Zuge der Orthographischen Konferenz von 1876 befasste sich ein Vortrag von Viktoria Bell bei der „Redezeit“ im April an der Wittenberger LEUCOREA mit dem Einfluss von gesellschaftlichen Faktoren auf die Variation in der Substantivgroßschreibung im 19. Jahrhundert. Dafür wurden historische Patientenbriefe aus einer psychiatrischen Einrichtung – verfasst zwischen 1834 und 1894 – untersucht. Es wurde der Frage nachgegangen, ob Faktoren wie das soziale Geschlecht, der sozioökonomische Status der Schreibenden sowie deren Bildungsgrad und der Formalitätsgrad der Briefe einen Einfluss auf die Variation haben.
Mit der Ersten Orthographischen Konferenz versuchte man 1876 in Berlin eine einheitliche Rechtschreibung im Deutschen Kaiserreich zu erreichen. Dort setzte Viktoria Bell historisch mit ihrer Untersuchung an. Das überraschende Ergebnis: Trotz aller orthographischen Unsicherheiten erfolgt die Großschreibung der Substantive nahezu durchgehend. Ein Unterschied in der Schreibe von Männern und Frauen ist nicht ersichtlich. Dies lässt den interessanten Schluss auf die inzwischen normative Festigkeit eines seit dem 16. Jahrhundert langsam herausgebildeten Bewusstseins zu.
Viktoria Bell studiert Sprachwissenschaft mit Schwerpunkt Germanistik und ist Forschungsassistentin an der Universität Salzburg. Sie konnte sich 2023 bei der Ausschreibung eines Stipendiums des Vereins WortWerkWittenberg (WWW) durchsetzen, das einen sechswöchigen Aufenthalt in der LEUCOREA Wittenberg vorsah. Während dieser Zeit wurden durch Nutzung der Buch- und Archivbestände der sich im Aufbau befindlichen ‚Forschungsbibliothek Deutsche Sprachgeschichte‘ die Grundlagen für diese Forschungsarbeit gelegt.
Im Mai 2018 schufen die Stiftung LEUCOREA, das Wittenberger Institut für Sprache und Kultur an der Martin-Luther-Universität, die Stiftung Deutsche Sprache und das WWW mit einem Kooperationsvertrag die Grundlage für diese Gelehrtenbibliothek. Aufgrund der von Martin Luther ausgehenden sprachlichen Wirkungen bot es sich an, diese zentrale Forschungsinstitution zur deutschen Sprachgeschichte in Wittenberg einzurichten.
Bei der „Redezeit“ werden vierteljährlich interessante sprachliche und sprachpolitische Themen von einem Referenten vorgestellt, um anschließend darüber zu diskutieren. Die nächste Veranstaltung findet am 8. Juli, um 18 Uhr in der LEUCOREA statt. Prof. Dr. Hans-Joachim Solms, emeritierter Professor für Geschichte der deutschen Sprache und Literatur an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und in der zurückliegenden Amtsperiode Mitglied im Rat für deutsche Rechtschreibung, berichtet aus der Arbeit der „maßgebenden Instanz in Fragen der deutschen Rechtschreibung“.
Text: Hans-Joachim Solms | Jörg Bönisch